Grösser als Zürich
Kunst in Aussersihl
24. Februar – 22. April 2012
Zürich-Aussersihl ist das kreative Zentrum der Stadt: Wer Kunst macht, wer
sich dafür interessiert, kommt am Kreis 4 kaum vorbei. Das Helmhaus Zürich
widmet dieser auf kleinstem Raum konzentrierten Kreativität eine grosse
Ausstellung und ein reiches Veranstaltungsprogramm mit über 300 beteilig-
ten Künstlerinnen und Künstlern. Gleichzeitig erscheint im Verlag Scheideg-
ger & Spiess das Buch «Grösser als Zürich − Ein kleines Psychogramm des
Zürcher Stadtquartiers Aussersihl».
Die Ausstellung ist eingebettet in die Gegenwart – und blickt in die Vergangen-
heit zurück. Für einmal ergibt sich Qualität auch aus schierer Quantität: 222
Positionen aus der Bildenden Kunst, 48 auftretende Autorinnen und Autoren,
6 Konzerte und 12 Filme, die im Kino Stüssihof gezeigt werden: Sie alle ver-
bindet ein Ort, ein Klima, eine Geschichte und eine Vision – Zürich-Aussersihl,
der Kreis 4, wo die Künstlerinnen und Künstler gewohnt, gearbeitet, eine Ar-
beit realisiert haben. Oder: Das alles immer noch tun.
Die Gemeinde Aussersihl war bei ihrer Eingliederung in die Stadt Zürich im
Jahr 1893, was Fläche und Einwohnerzahl anbelangt, grösser als die ganze
damalige Stadt. Aussersihl, heute den Kreis 4 bezeichnend, galt als Ort der
Industrie, der Eisenbahn; des Proletariats, der Immigration – und gilt noch
heute als Ort des multikulturellen Zusammenlebens, des Erfindungsgeists,
der Kreativität und der menschlichen Würde.
Weil hier auf kleinstem Raum so viele Kulturschaffende arbeiten, weil hier
das kreative Potenzial von Zürich wohnt und arbeitet, ist der Kreis 4 auch
ideell – und praktisch – grösser als Zürich: Es wimmelt von emsigen Initiati-
ven, Überlebensstrategien, von innovativen Werkstätten. Die Kreativarbeiten-
den teilen und vermitteln sich Büros und Aufträge, über die Disziplinen hin-
weg. Jede kennt jeden, und man lässt einander nebeneinander leben. Der
Kreis 4 ist das kreative Zentrum der Stadt, das mass- geblich zur Entwick-
lung Zürichs beiträgt: Hier wird produziert, was weit über Aussersihl hinaus
dann auch präsentiert wird. Hier sind bedeutende Keimzellen von Zürichs
kultureller Ausstrahlung zu Hause. Sie bilden ein soziokulturelles Biotop,
das in der Schweiz einzigartig ist und auch international Modellcharakter
beanspruchen darf.
Diese Stadt in der Stadt weckt einen Weltzauber zwischen Klein- und Gross-
stadt, verhandelt täglich neu austarierte Mischungen von Kontrolle und Ano-
nymität, von Eigenem und Fremdem.
Begleitet wird die Ausstellung von einem reichhaltigen Veranstaltungsprog-
ramm. So geben zum Beispiel die international renommierte Jazzpianistin
Irène Schweizer und das experimentelle Duo ./morFrom/. im Helmhaus Kon-
zerte. Melinda Nadj Abonji, Catalin Dorian Florescu, Dieter Meier und viele
andere lesen aus ihren Büchern. Valentin Landmann und Emilio Modena re-
ferieren, Guya Marini, Max Dudler, Gottfried Honegger, Anna Schindler und
manch andere diskutieren. Schliesslich zeigt das Kino Stüssihof ein exqui-
sites Programm mit Filmen und Vorfilmen aus dem Kreis 4: «Dreissig Jahre»
von Christoph Schaub, «Bingo» von Markus Imboden, «Leichenzug Reichs-
tagsabgeordneter August Bebel» aus dem Jahr 1913 oder den Dokumentar-
film über den «Wohnkomplex» Lochergut von Fabienne Boesch.
Begleitet wird die Ausstellung auch von einem – vollkommen eigenständigen
– Buch. Im Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess erscheint «Grösser als Zü-
rich − Ein kleines Psychogramm des Zürcher Stadtquartiers Aussersihl». Die
Journalisten Caspar Schärer und Thomas Wyss haben rund dreissig Auto-
rinnen und Autoren mit Texten beauftragt und Bilder dazu ausgewählt. Ent-
standen ist ein so reichhaltiges wie lebendiges, so augenzwinkerndes wie
nachdenkliches Panorama des Kreis 4 in Buchform.
Das gesamte Projekt schliesst an die Publikation und Ausstellungsreihe «Kult
Zürich Ausser Sihl» an, die von Silvio R. Baviera in der Galerie Museum Ba-
viera im Kreis 4 initiiert, in der Folge in der Alten Malzfabrik in Berlin gezeigt
wurde und diesen Sommer in die Deutschvilla nach Strobl bei Salzburg wei-
terreisen wird.
Mit «Grösser als Zürich» realisiert das Helmhaus Zürich somit nicht nur eine
Ausstellung, sondern ein eigentliches Festival zum Kreis 4 – mit teilweise ein-
maligen Beiträgen, die nur dank dem lokalen Bonus und dem Engagement
der Beteiligten zustande kommen konnten. Die wild-wuchernde, Generatio-
nen verbindende Übersicht im Helmhaus Zürich, die keinen Anspruch auf
Vollständigkeit erhebt, weil sie aus allen Nähten platzt, markiert auch ein
kurzes Innehalten im Strom unserer Schnelllebigkeiten: Wo geht es hin?
Wie geht es weiter? Mit dem Quartier: wenn die Europaallee aufs Quartier
abstrahlt? Mit denen, die halt auch zu einer grossen Gesellschaft gehören:
den Ausgesteuerten, sich Prostituierenden, Süchtigen? Wo landen sie, wenn
der ökonomische Druck sie wegdrängt? Und wie wirkt sich dieser Druck auf
die vielgepriesenen Kreativen aus? Wo werden sie landen? So kommt diese
Ausstellung in einem spannenden, vielleicht im letzten Moment: wo der Kreis
4 noch alles in einem ist – Vergnügungsmeile, multikultureller Schmelztiegel
und kreatives Zentrum.
Silvio R. Baviera, Michael Hiltbrunner und Guido Magnaguagno, Kuratoren
von Ausstellung und Veranstaltungsprogramm; Simon Maurer,
Helmhaus Zürich, Leitung
Die Magnete Moral und Freiheit kennen sich. Sie grüssen sich, ohne die Kon-
flikte zu verdrängen. Die Halbwelt schützt die existenziellen Nischen vor
krampfhaft spassiger Überflutung. Aussersihls Grenzen manifestieren eine
Integrationskraft ohne Assimilationszwang. 99 ansässige Nationen weist das
Amt für Statistik gegenwärtig im Kreis 4 aus – mit der Schweiz sind es hun-
dert. Gleichzeitig existieren Multikulti und Parallelgesellschaften – ein interkul-
turelles Lebensexperiment sondergleichen. Der Sprachgebrauch mag etwas
ruppiger sein, doch so direkt, wie die Konflikte des Alltags ausgehandelt
werden, ist er redlicher und möglicherweise: krisenresistenter.
Dieses Quartier einmal anders zu zeigen, liegt in der Luft. Zürich-Aussersihl –
auch «Kreis Cheib» genannt – hat nicht den besten Ruf. Sein Rückgrat ist die
lokale Rotlichtmeile, mit Verzweigungen ins Drogenmilieu, in die Korruption
und Kriminalität. An diesem Ort, wo das Gemeinsame darin besteht, dass
alle anders sind, haben sich Emigranten und Kreative seit jeher am wohlsten
gefühlt. Hier wurden Künstler geboren wie die drei Gebrüder Gubler, hier
spazierten James Joyce und 2 Robert Walser, hier legten Gottfried Honeg-
ger und René Burri los. Hier hat sich gerade in jüngeren Jahren wieder eine
Vielzahl von Kreativen angesiedelt, aus allen Bereichen: Kunst, Musik, Mode,
Grafik, Architektur, Literatur, Film. Hier wurden und werden theoretische Dis-
kurse ausgetragen, manchmal mit praktischen Folgen. Hier kamen und kom-
men soziale Spannungen an die Ober-fläche: von der Arbeiterbewegung, die
1918 unrühmlich niedergeschlagen wurde, über die gesellschaftlichen und
kulturellen Befreiungsbewegungen von 1968 und 1980 bis zu «Reclaim the
Streets» heute.
Elena Rutman,
how to educate people no. 1, 2010,
Fotografie auf Aluminium, 16,7 × 45 cm
Michael Meier,
Roger,
aus der Serie
vielleicht lieber morgen, 2008,
C-Print, mit einem Statement
des Fotografierten
Domenico Angelica,
Ohne Titel, 1983,
Lackfarbe auf Jute,
179 × 93 cm
Kurt Kleinert,
Ohne Titel, 1982,
Farbstift, Gouache auf Papier,
86 × 59 cm.
Judith Peters,
2-2, 2010,
Monotypie,
Ölkreide, Lack und
Papier auf Papier,
29,7 × 21 cm
Gottlieb Kurfiss,
Banlieue, 1949,
Öl auf Leinwand,
43 × 48 cm.
Silvio R. Baviera,
00016 C,
Sing-Sang,
1992, Granit,
48,2 × 46,8 × 9 cm.
Olivia Heussler,
aus der Serie Unser Kachelofen
in der Städtischen Siedlung Erismannhof, Zürich, 1988–1990, Fotografie
Shirana Shahbazi,
o.T., 2011,
Fotografie